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Tapering im November, „Business as usual“ im Dezember!

  • Autor/en
    Frédéric Leroux
  • Veröffentlicht am
  • Länge
    8 Minuten Lesedauer

Der Preisanstieg beiderseits des Atlantiks seit der Wiederaufnahme des weltweiten Wirtschaftslebens kann ein Grund sein, das Szenario einer anhaltenden Inflation ins Auge zu fassen, die von einem allgemeinen Zinsanstieg begleitet werden könnte. Diese bedrohliche Konstellation, die in den letzten 40 Jahren nur höchst selten auftrat, könnte in den USA noch bedrohlicher werden, weil die Lohnentwicklung zurzeit ein wichtiger Faktor für die laufende Inflationsdynamik des Landes ist.

Dieses Szenario ist zwar noch wenig wahrscheinlich, aber seine Auswirkungen auf die Renditen von Finanzanlagen könnten so beträchtlich sein, dass es uns wichtig erscheint, seine Triebfedern aufzuzeigen. Wenn die anhaltende Disinflation enden sollte, wären wir gezwungen, die Anlegerreflexe abzulegen, die wir uns in den letzten Jahrzehnten angeeignet haben, und unsere Anpassungsfähigkeit an ein neues Umfeld unter Beweis zu stellen.

So weit sind wir noch nicht, es handelt sich immer noch um ein Alternativszenario. Damit es nicht eintritt, haben im Übrigen mehrere Zentralbanken eine geldpolitische Wende eingeleitet, um so die Inflationserwartungen zu dämpfen. So haben mehrere Notenbanken von rohstoffexportierenden und bestimmten anderen Schwellenländern in den letzten Wochen bereits die Zinsen angehoben. Die US-Notenbank (Fed) beginnt noch in diesem Monat mit der Verringerung ihrer Anleihenkäufe und plant im Verlauf des kommenden Jahres eine Erhöhung ihrer Leitzinsen. Ihr Präsident, Jerome Powell, hat klar zum Ausdruck gebracht, dass er auf keinen Fall die Märkte überraschen will, indem er schon im Voraus sagt, was die Fed vorhat und in welchem Umfang und Tempo sie dies umsetzen will. Wenn man dem Fed-Präsidenten zuhört, scheint es fast festzustehen, dass die wirtschaftliche Realität keine plötzlichen Überraschungen bereithält, die seine Pläne durchkreuzen oder die Märkte überraschen könnten. „Tapering1 im November, „Business as usual“ im Dezember, eigentlich ist nichts passiert!“

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Wir wären gerne genauso überzeugt davon wie Jerome Powell. In der Tat kommen nun Zweifel am „vorübergehenden“ Charakter der US-Inflation - die inzwischen 6 Prozent übersteigt - auf, was mit den Lieferengpässen in mehreren Branchen und der steigenden Wahrscheinlichkeit zusammenhängt, dass die Pandemie die Einstellungen der Menschen gegenüber der Erwerbstätigkeit verändert hat. Aufgrund der zusätzlichen Ersparnisse, die sie in den letzten 18 Monaten angesammelt haben (12 Prozent des US-BIP!), des deutlichen Anstiegs der Bewertungen von Finanz- und Immobilienanlagen und weil sie sich „mehr Lebensqualität“ wünschen, scheint eine gewisse Zahl von Privathaushalten nun vorzuhaben, frühzeitig in Rente zu gehen, oder ein Mitglied des Haushalts beabsichtigt, die Erwerbstätigkeit ganz einzustellen oder weniger zu arbeiten. Die Erwerbsquote der US-amerikanischen Arbeitnehmer, die auf niedrigen Niveaus stagniert, obwohl das Angebot an gut bezahlten Stellen im Bereich seiner bisherigen Höchststände liegt, ist ein objektives Maß für den Rückgang an verfügbaren Arbeitskräften und das künftige Lohninflationspotenzial.

Zu den Aspekten der Engpässe in mehreren Lieferketten und der günstigen Position, in der sich die Arbeitnehmer (zum ersten Mal seit Jahrzehnten) bei Lohnverhandlungen befinden, kommen zwei weitere potenzielle Inflationsfaktoren hinzu. Der erste hängt mit den veränderten Wirtschaftspolitiken zusammen, in denen die Haushaltspolitik nun größeres Gewicht hat. Durch den Rückgriff auf die Haushaltspolitik kann die Kaufkraft der Privathaushalte und insbesondere derjenigen mit einer hohen Neigung, nach Einkommenserhöhungen auch mehr zu konsumieren, unmittelbar unterstützt werden. Dies verleiht diesem Instrument eine inflationäre Dimension, die die heutige Geldpolitik noch nie erreicht hat. Der zweite zusätzliche Inflationsfaktor ist die Forcierung der Energiewende, die wegen des Rückgangs der Investitionen in fossile Energien, deren Ersetzung durch andere Energieträger noch viele Jahre dauern wird, einen längeren Anstieg der Öl- und Gaspreise nach sich ziehen kann.

Es ist nicht auszuschließen, dass eine Lohn-Preis-Spirale entsteht, aufgrund der die Inflation robuster und dauerhafter als erwartet wird

Es ist daher nicht auszuschließen, dass eine Lohn-Preis-Spirale entsteht, aufgrund der die Inflation robuster und dauerhafter als erwartet wird und die den Währungsbehörden und den Akteuren auf den Finanzmärkten unerwartet ihren Rhythmus aufzwingt.

Die anfänglichen Reaktionen der Märkte auf die Leitzinserhöhungen und die immer konkretere Aussicht auf eine geldpolitische Straffung in den USA waren in allen betroffenen Ländern gleich: Die kurzfristigen Zinsen zogen (zum Teil deutlich) stärker an als die langfristigen Zinsen; dies spiegelt die Sichtweise wider, dass die Zentralbanken den geldpolitischen Zyklus gut im Griff haben und auf eine sanfte Landung des Wachstums und der Inflation zusteuern. Die Märkte preisen somit ein ideales geldpolitisches Straffungsszenario einschließlich der Erwartung eines eher schnellen, ausgedehnten und zudem gut abgestimmten Anstiegs der kurzfristigen Zinsen ein, der dazu führen würde, dass das Wachstum erhalten bleibt und die Inflationserwartungen auf etwas niedrigerem Niveau verankert werden. Die Ankündigung der Fed wurde auch von den Aktienmärkten und den Unternehmensanleihen positiv aufgenommen. Die Bedeutung dieser Vertrauensbeweise ist umso größer, weil die Aktienmärkte auf historischen Höchstständen liegen und die Bewertungen in vielem Fällen überzogen sind, während die Kreditspreads von Unternehmensanleihen außerordentlich gering sind, was ebenfalls auf eine sehr großzügige Bewertung hindeutet. Solche Bewertungen schränken den Fehlerspielraum der Zentralbanken ein: Eine zu schnelle oder überflüssige Anhebung der Leitzinsen kann eine beträchtliche Korrektur der Kurse von Finanzanlagen auslösen, deren Kollateralschäden angesichts des hohen Schuldenniveaus absehbar sind.

In diesem sehr angespannten Umfeld ist die Ruhe an den Märkten ein sehr klares Anzeichen dafür, dass sie der Meinung sind, dass die Wirtschaft immer noch auf dem gleichen Kurs wie seit mehreren Jahrzehnten ist; dieses durch eine strukturell niedrige Inflation ohne größere Schwankungen gekennzeichnete Umfeld gestattet, das Zinsniveau dauerhaft niedrig zu halten, was zu einem Schuldenstand beiträgt, der ein in den Augen der Anleger ausreichendes Wirtschaftswachstum ermöglicht. In diesem beständigen Umfeld wird im Zusammenhang mit der notwendigen Straffung der Geldpolitiken meistens auf das Risiko einer ausgeprägten Konjunkturschwäche verwiesen. Nach 40 Jahren Disinflation sind die Erwartungen an das Wirtschaftswachstum nun auf einem niedrigeren Stand verankert, aber auch das Gegenteil könnte der Fall sein … Wie dem auch sei: Man gibt nicht so leicht Gewohnheiten auf, die so tief – verankert sind.

[Divider] [Flashnote] Gold dust

Im Gegensatz dazu scheinen die Märkte das Risiko einer zu schwachen oder zu langsamen Reaktion der Zentralbanken, die dazu führen könnte, dass sie die Kontrolle über die langfristigen Zinsen verlieren, nicht besonders stark in Betracht zu ziehen. Der Zinsanstieg am kurzen Ende der Kurve wird oft als Ausdruck der aktiven Wachsamkeit der Märkte gegenüber Inflationsrisiken angesehen; das Gleiche gilt für den von indexgebundenen Produkten antizipierten sprunghaften Inflationsanstieg, der für bestimmte Laufzeiten bis auf die höchsten Stände seit 20 Jahren ging. Aber angesichts Nominalzinsen von 1,2 Prozent auf fünf Jahre bei einer erwarteten durchschnittlichen Inflation von 3,1 Prozent im gleichen Zeitraum können jedoch das Gefühl entstehen, dass in Sachen „aktive Wachsamkeit gegenüber Inflationsrisiken“ ein gewisser Nachholbedarf besteht: Die negativen Folgen einer auf Dauer hohen Inflation für die Zinsmärkte sind größer als die positiven Effekte ihrer Rückkehr auf den Normwert der vergangenen Jahrzehnte. Dies ist eine klare Bestandsaufnahme der aktuellen Positionierung der Märkte.

Ein klares Signal in Sachen Aktienanlagen, eine kompliziertere Situation für Anleihen

Das derzeitige Umfeld ist ein klares Signal in Sachen Aktienanlagen. Falls die Inflation, nachdem die Lieferengpässe behoben sind, wieder nach und nach zurückgehen sollte, ohne dass das Wachstum wegen der geldpolitischen Straffungen einbricht, dürften die Aktienmärkte ihren Aufwärtstrend beibehalten, der nach wie vor auf Growth-Titeln mit guter Visibilität beruht. Diese brauchen, auch wenn ihr Name eher etwas anderes nahelegt, kein starkes Wachstum, um sich gut zu entwickeln. Falls es den Zentralbanken nicht gelingen sollte, eine sanfte Landung hinzubekommen, und die Konjunktur sich stattdessen stärker als erwartet verlangsamt, würden diese Growth-Titel mit guter Visibilität weiterhin von ihrer relativen Performance profitieren. Es bräuchte eine echte Rezession, damit die defensivsten Werte dank ihrer geringeren Konjunkturabhängigkeit gut abschneiden.

Unser Szenario einer anhaltenden Inflation ist interessanter, weil es weniger intuitiv ist. Der Zeitraum, der sich am besten mit diesem Szenario vergleichen lässt, ist die Zeit der „Nifty Fifty“ von Mitte der 1960er- bis Anfang der 1970er-Jahre, als die erste Ölkrise (1973) dem Haussemarkt der Aktienmärkte ein Ende setzte. Davor, von den 1950er- bis Mitte der 1960er-Jahre, verzeichnete die Wirtschaft ein sehr ansehnliches, nichtinflationäres Wachstum, von dem die Anleihen- und die Aktienmärkte insgesamt profitierten. Im Zuge des ungefähr 1965 einsetzenden Aufwärtstrends der Inflation stiegen die 10-jährigen Anleiherenditen in den Bereich von 8 Prozent, was aber nicht verhinderte, dass damalige interessante Growth-Aktien ihren Wert im Vergleich zum restlichen Aktienmarkt sehr deutlich steigerten. Von diesem Umfeld profitierten die sogenannten „Nifty Fifty“, so die Bezeichnung der Aktien von rund 50 attraktiven Unternehmen, die mit der Inflation leben konnten. Sie stammten aus Sektoren, die damals neu waren, wie beispielsweise (damals schon!) Technologie (Digital Equipment), Freizeit (Disney), Gesundheit (Eli Lilly), Konsumgüter (Kodak), oder von Industriekonglomeraten (General Electric). Als die erste Ölkrise zuschlug, lag das durchschnittliche Kurs-Gewinn-Verhältnis dieser Unternehmen bei rund 50 gegenüber kaum 10 für den Rest des Aktienmarkts. Diese Rolle könnten heute durchaus die Technologie- und Internetriesen, ihre Pendants aus dem Luxussektor und die innovativsten Unternehmen aus dem Gesundheitssektor übernehmen.

Diese Kategorie der attraktiven Wachstumsunternehmen besitzt offensichtlich erhebliches relatives Wertpotenzial, denn ihr Geschäftsmodell gibt durchaus den Eindruck, dass es mit allen Szenarien zurechtkommt, die man zurzeit erwarten kann.

Die Anlageklasse der Anleihen ist schwieriger zu erfassen. Wenn die Zinsen trotz hoher Inflationserwartungen und geringer Kreditspreads so niedrig sind, besteht kein Anreiz, extreme Positionen einzugehen, denn diese paradoxe Situation bewirkt Volatilität. Auf längere Sicht sollte man auf mögliche Anzeichen für eine Rückkehr der Inflation achten, die 40 Jahre lang in Vergessenheit geraten war. Ein entsprechendes Signal sollte man nicht verpassen, denn es würde ein Anleihemanagement rechtfertigen, das auf höhere Zinsen ausgerichtet ist und höheres Wertschöpfungspotenzial aufweist als das Szenario der Zentralbanker, die eine erneut schleppende, durch immer neue Schulden am Leben gehaltene wirtschaftliche Entwicklung erwarten. Bis der hypothetische Zeitpunkt gekommen ist, an dem die Inflation für alle Sparer ein Grund zur Sorge ist, veranlasst uns unsere Wachsamkeit zu äußerster konstruktiver Zurückhaltung auf den Märkten für Staatsanleihen der Industrieländer.

Anlagestrategien

Quelle: Carmignac, Bloomberg, 12.11.2021
1Das Wort „Tapering“ bedeutet in diesem Zusammenhang eingeschränkte Anleihekäufe durch die Zentralbanken.