Edouard Carmignac greift zur Feder und kommentiert aktuelle wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Herausforderungen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
die Einführung des Prinzips der unbefleckten Empfängnis im Finanzsektor war wohl eine der Folgen der Pandemie, mit denen man am wenigsten gerechnet hätte. Allen bewährten Glaubenssätzen zum Trotz nahmen die Regierungen der Industrieländer neue Schulden in Rekordhöhe auf, und die Zentralbanken gaben ihnen diese Kredite, ohne dass die Märkte sie über die Ratings ihrer Anleihen oder den Wechselkurs ihrer Währungen abgestraft hätten.
Doch wird dieser Glückszustand von Dauer sein? Ganz sicher nicht. Oder besser gesagt: Er wird so lange anhalten wie die Auswirkungen der Pandemie. Solange sie alle Länder in gleichem Maße betreffen, besteht die doppelte Notwendigkeit, sowohl die Gesundheit als auch die Arbeitsplätze zu schützen. Wenn es eines Tages einen Impfstoff gibt, der sowohl zuverlässig als auch für möglichst viele Menschen verfügbar ist – was nach unseren Analysen nicht vor dem zweiten Quartal des kommenden Jahres der Fall sein wird –, wird sich unweigerlich die Frage nach der Tragfähigkeit der Staatsschulden stellen.
Außerdem könnte es paradoxerweise dazu kommen, dass sich die Aktien- und Anleihemärkte vor einem Ende der Pandemie zu fürchten beginnen. Sollte dies Anlass zu großer Besorgnis sein? Es stimmt zwar, dass die Regierungen nicht mehr automatisch Kaufkraft verteilen werden. Aber wenn die Gesundheitsgefahr einmal gebannt ist, wird die Konjunktur nach der überaus langen Flaute von selbst wieder an Fahrt aufnimmt. Die Zentralbanken werden wiederum dazu neigen, ihre Unabhängigkeit zu unterstreichen, indem sie auf geldpolitische Straffungen hinarbeiten. Diese dürften jedoch nicht allzu drastisch ausfallen, weil ein sprunghafter Anstieg der Staatsverschuldung in Volkswirtschaften, in denen starke zugrunde liegende deflationäre Tendenzen eine dauerhaft höhere Inflation ausschließen, wesentliche Zinserhöhungen verhindert.
Wie sehen die Aussichten für Kapitalanlagen nach der Corona-Krise aus? Eine Beibehaltung der sehr niedrigen Zinsen wird zweifellos ein wesentlicher unterstützender Faktor für die Bewertungen auf den Märkten sein. Davon werden insbesondere Technologieunternehmen profitieren, da die Bewertung ihrer zukünftigen Ergebnisse attraktiver wird, nachdem sie während der Pandemie gezeigt haben, wie relevant ihr Produktangebot ist und wie flexibel sie auf einen sprunghaften Nachfrageanstieg reagieren können. Natürlich wird der Gesundheitssektor weiterhin von zentraler Bedeutung sein, da die Steuerung des Epidemierisikos im Mittelpunkt stehen wird. Was das Anleihenuniversum anbelangt, wird das Prinzip der unbefleckten Empfängnis bald an seine Grenzen stoßen. Die Bonität der Staaten, die nach der Krise weniger gut dastehen, wird sinken. Da der Spielraum der Zentralbanken für Zinserhöhungen begrenzt ist, werden die Währungen zu Anpassungsvariablen, sodass der Anstieg der Staatsverschuldung der USA unausweichlich den Dollar belasten dürfte. Im Gegensatz dazu könnte der Yuan davon profitieren, dass China diese Krise mit einer begrenzten haushalts- und geldpolitischen Unterstützung überstanden hat. Ferner dürfte die gestiegene Volatilität auf dem Devisenmarkt in Verbindung mit weiterhin im Überfluss vorhandener günstiger Liquidität auch weiterhin Gold, die ultimative Reservewährung, begünstigen.
Mit freundlichen Grüßen,