Juni 2019
So sind die Aktienmärkte nach einigem Hin und Her mittlerweile wieder auf die Niveaus von Ende März zurückgefallen. Die Anleihemärkte senden hingegen weiterhin das eindeutige Signal einer sich auf dem falschen Kurs befindlichen und deflationären Weltwirtschaft.
Im Moment stellt sich für die Märkte folgende, zentrale Frage: Wird ein erneutes Anziehen des weltweiten Wachstums, gestützt durch das chinesische Konjunkturprogramm, günstige Basiseffekte nach dem Einbruch von 2018, weltweit akkommodierende Geldpolitiken und die robuste amerikanische Wirtschaft, die Oberhand über die Konjunkturabschwächung in den USA gewinnen? Diese Abschwächung ist eine verspätete Folge der übermäßigen geldpolitischen Straffung im Jahr 2018, des natürlichen Fortschreitens eines lange andauernden Konjunkturzykluses und der Boomerang-Effekte einer unverkennbar merkantilistischen Handelspolitik, die jeglichen Aufschwung der Weltwirtschaft verhindert.
Zum ersten Mal seit dreißig Jahren könnte die Geopolitik den Welthandel erneut massiv beeinträchtigen
Unsere heutige Einschätzung ist unverändert: Der Erhalt des Gleichgewichts zwischen diesen beiden Kräften ist fragil und das Potenzial für einen eventuellen Aufschwung wird weitgehend von sowohl strukturellen (Überschuldung, geldpolitische Beschränkungen) als auch konjunkturellen (Handelsspannungen) Einschränkungen gebremst. Auf längere Sicht muss man sich fragen, welche globalen Auswirkungen die zunehmende Rivalität zwischen den USA und China haben könnte. Zum ersten Mal seit dreißig Jahren könnte die Geopolitik den Welthandel massiv beeinträchtigen.
Es sieht so aus, als hätten die Märkte einige Zeit gebraucht, um einzuräumen, dass die jüngsten Spannungen zwischen den USA und China eher eine strategische Rivalität als einen Handelskonflikt widerspiegeln. Das Buch Death by China von Peter Navarro, einem engen Berater von Donald Trump, stammt aus dem Jahr 2011 und bringt ganz eindeutig den berühmten „Thukydides-Komplex“ zum Ausdruck, den die USA heute gegenüber China empfinden (analog zur Rivalität, die Sparta im antiken Griechenland gegenüber dem zunehmenden Imperialismus Athens empfand und die zum Peloponnesischen Krieg führte).
Auf weniger martialische Weise lassen sich die chinesisch-amerikanischen Spannungen auch als eine nicht unterdrückbare Rivalität zwischen zwei merkantilistischen Mächten interpretieren (siehe unsere Note vom April 2017, "Langfristig orientierte Anleger sollten dem Populismus misstrauen"). Die USA unter Donald Trump glauben nicht an die Vorzüge des Freihandels, als dessen "Opfer" sie sich sehen. Stattdessen bevorzugen sie, wie im 17. Jahrhundert England, Holland oder das Frankreich Colberts, die energische Nutzung eines günstigen Kräfteverhältnisses gegenüber ihren Handelspartnern, um das Land durch die Produktion von Handelsüberschüssen und die Unterstützung heimischer Investitionen in die Industrie zu bereichern. Diese Handelspolitik führt natürlich zu einer unmittelbaren Konfrontation mit jener Chinas, dem man nicht ganz unbegründet ebenfalls ein merkantilistisches Verhalten vorwirft. Logischerweise wird sie früher oder später auf alle Länder ausgeweitet, deren Handelsüberschuss gegenüber den USA den merkantilistischen Ambitionen der Trump-Administration zuwiderläuft – angefangen bei Deutschland und Japan.
Es zeigt sich, dass die zunehmenden Handelsspannungen zwischen den USA und ihren Handelspartnern fester Bestandteil des von der Trump-Administration gewählten Wirtschaftsmodells sind und sich im Falle Chinas zu einer geostrategischen Rivalität gesellen. Die Intensität dieser Rivalität wird an der heftigen Attacke gegen Huawei, ein für China äußerst wichtiges Unternehmen, seitens der amerikanischen Regierung deutlich. Diese scheut sich nicht, von ihrer Macht Gebrauch zu machen und den chinesischen Konzern in eine tödliche Isolation zu drängen.
Das Problem für uns Anleger besteht darin, dass dieses infrage gestellte Modell der „glücklichen Globalisierung“ der vergangenen Jahrzehnte zu den kurzfristigen Ungewissheiten auch die dauerhafte Gefahr einer Störung der weltweiten Logistikketten für die Margen der Unternehmen, einer Steigerung der Kosten für den Endverbraucher und einer Abschwächung des Welthandels hinzufügt. In diesem Umfeld fällt es schwer, ohne einen Deus ex Machina auf der geldpolitischen Bühne mit einer substanziellen Aufwertung der Aktienmärkte von ihren aktuellen Niveaus zu rechnen.
Das Risiko besteht darin, dass der Druck der Märkte noch deutlich größer werden muss, bevor ein markanter Kurswechsel der Geldpolitik die Lage hinreichend verändert
Die Märkte haben sich seit zehn Jahren daran gewöhnt, dass die Zentralbanken jede schlechte wirtschaftliche oder politische Nachricht mit einem geldpolitischen Zauberschlag in eine gute Nachricht für die Märkte verwandeln. Das Jahr 2018 hat deutlich gemacht, wie groß diese gefährliche Abhängigkeit der Märkte von diesem Füllhorn ist. Zudem basierte ihr Aufschwung in den ersten vier Monaten des Jahres 2019 erneut auf der Botschaft, dass die Fed darauf verzichtet hatte, sie von ihrer langjährigen Abhängigkeit zu entwöhnen.
Das Problem für die Märkte besteht darin, dass der vor zwei Jahren begonnene Zinserhöhungszyklus zwar unterbrochen wurde, die amerikanische Wirtschaft sich aber in diesem Jahr weiter verlangsamt. Gleichzeitig dauert die Bilanzverkürzung der Fed noch bis September an. Obwohl die Hoffnung auf niedrigere Zinsen die Robustheit der Märkte unterstützt und eine weitere Aufwertung des Dollars verhindert, sogar während des Marktrückgangs im Mai, sieht es in Wirklichkeit so aus, dass die heute effektiv betriebene Geldpolitik das amerikanische Wachstum trägt wie der Strick den Gehängten. Sie muss ihren Kurs deutlich anpassen, um die deflationären Auswirkungen der sich verhärtenden Handelsspannungen mit China auf ein bereits schwächelndes Wachstum einzudämmen. Dies gilt umso mehr, wenn die chinesische Währung deutlich abwerten sollte.
Das Risiko besteht also darin, dass der Druck der Märkte deutlich größer werden muss, bevor ein Kurswechsel der Geldpolitik die Lage hinreichend verändert. Die Handlungsspielräume der europäischen und der japanischen Zentralbank sind mittlerweile stark eingeschränkt. Das gilt insbesondere für die EZB. Von ihr werden wir im nächsten Monat erfahren, ob ihr neuer Präsident, der im Oktober die Nachfolge von Mario Draghi antreten wird, bei Bedarf ebenso flexibel und erfindungsreich ist wie sein Vorgänger.
In diesem komplexen Umfeld befindet sich Europa in keiner starken Position. Neben der begrenzten geldpolitischen Unterstützung, die es sich erhoffen kann und die es im Falle eines „Währungskriegs“ zwischen China und den USA durch einen zu starken Euro belasten würde, ist Europa in mehreren Bereichen verwundbar. Dabei geht es kaum um den jüngsten Ausgang der Europawahlen. Einige der großen traditionellen Parteien verloren zwar deutlich an Zustimmung, insbesondere in Frankreich und in Großbritannien, doch das Interesse an Europa wurde eher bestärkt. Die relative Bedeutung der europafeindlichen Parteien hat sich gegenüber 2014 kaum verändert und die wachsende Interessengemeinschaft für ausgeprägtere Wachstumspolitiken dürfte eher auf Konsens stoßen als zuvor.
Die Schwierigkeit liegt woanders. Sie liegt zunächst im Reformprozess, der dauerhaft unterbrochen zu sein scheint. Auf lokaler Ebene haben mehrere europäische Länder, wie etwa Italien und Frankreich, keinen neuen haushaltspolitischen Spielraum aufgebaut, um die nächste Konjunkturschwäche abzufedern. Zudem ist auf Ebene der Union das Macrons Projekt, ein europäisches Konjunkturbudget zu bilden, langfristig festgefahren. Ein weiterer Punkt, der Europa verwundbar macht, ergibt sich aus der sehr passiven Haltung gegenüber der chinesisch-amerikanischen Rivalität. Denn hierdurch könnte es gleichermaßen unter sich verschlechternden weltweiten Wirtschaftsaussichten (die Konjunktur Europas ist eng mit der Dynamik des Welthandels verknüpft) und einem eventuellen und sei es noch so unsicheren Handelsabkommen zwischen China und den USA zu leiden haben, das auf dem Rücken Europas geschlossen würde. Der wirtschaftliche und politische Zusammenhalt Europas sowie die Macht der europäischen Konzerne reichen derzeit nicht aus, um ihre Interessen in einer Welt zunehmender merkantilistischer Rivalitäten zu verteidigen. Wird es dem europäischen Automobilsektor gelingen, sich der Rolle des ersten verwundbaren Sühneopfers zu entziehen?
Auf den Märkten herrscht also Misstrauen und Disziplin – trotz der Reue der Finanzanalysten, die nach und nach zu ihrem übermäßigen Pessimismus vom Jahresbeginn zurückkehren, als sie ihre Schätzungen der Unternehmensergebnisse für 2019 zusammenstrichen. Deshalb haben wir in den vergangenen zwei Monaten an einer zurückhaltenden Anlagestrategie festgehalten und diese weiter verstärkt. Sie kommt in den Aktienportfolios durch moderate Exposures zum Ausdruck, die wenig konjunkturabhängige Wachstumswerte bevorzugen. Die Anleihenportfolios zeichnen sich durch relativ hohe Durationen und äußerst selektive Positionen in Unternehmensanleihen aus.
Quelle: Bloomberg, 31/05/2019