[Main Media] [Carmignac Note]

Das Virus und der Rubikon

Den meisten Anlegern ist bewusst, dass die extrem lockere Geldpolitik der großen Zentralbanken noch nie so günstig für die Kurse von Finanzanlagen war wie 2020. Da jetzt, am Anfang der weltweiten COVID-19-Impfkampagne, die Aussicht auf eine in wenigen Monaten einsetzende Konjunkturerholung besteht, ist die quasi garantierte Fortsetzung dieser Geldpolitik im Jahr 2021 und womöglich darüber hinaus für die Aktienmärkte überaus günstig. Was die Auswirkungen auf die Märkte anbelangt, verstärkt die Geldpolitik die mit den Impfungen verbundenen Erwartungen.

Diese Feststellung erklärt und rechtfertigt den allgemeinen Optimismus, der nun seit einigen Monaten herrscht. Aber sie erinnert auch an die Schlussbeobachtung von Carmignac’s Note im Januar 2020, wo es hieß: „Die Märkte sind noch im Rausch der Jahresenddynamik und somit zunehmend verwundbar“. Damals konnte niemand vorhersehen, dass ein exogener Impuls aufgrund eines Virus ein paar Wochen später das Ausmaß dieser Verwundbarkeit deutlich machen würde. Doch es war Vorsicht geboten. Dies half uns während der Marktkrise am Jahresanfang und gilt, was die Ausnutzung der anschließenden Erholung betrifft, auch für die Feststellung, dass eine bewusste Einstellung der Wirtschaftstätigkeit durch die Staaten garantiert erneute beispiellose haushalts- und geldpolitische Unterstützungsmaßnahmen zur Folge hätte (siehe Carmignac’s Note vom April 2020 „Stabilität erhalten“).

Wir bleiben auf kurze Sicht optimistisch, aber die sehr einheitliche Positionierung der Anleger am Anfang des neuen Jahres bereitet uns Sorgen


[Divider] [Management report] Architecture


Die sehr einheitliche Positionierung der Anleger am Anfang des neuen Jahres bereitet uns daher Sorgen. Auf kurze Sicht sind wir im Hinblick auf die Aktienmärkte jedoch relativ optimistisch, denn die Staaten sind bereit, ihre Unterstützungsmaßnahmen so lange zu verstärken, bis die Impfungen eine Entspannung der Lage bewirken. Auf mittlere Sicht drehen sich unsere strategischen Überlegungen um die sich nun andeutenden Spannungen: Zum einen zwischen dem aus wirtschaftlicher Sicht positiven Einfluss, den die absolute Kontrolle des US-Kongresses durch eine demokratische Mehrheit, die für ihr umfangreiches Konjunkturprogramm gewählt wurde, hat, und zum anderen den Ungleichgewichten, die potenziell mit diesem Szenario verbunden sind. Wie wir in Carmignac’s Note vom Dezember bereits angedeutet haben, könnte 2021 ein komplexeres Jahr für die Märkte werden, als anscheinend allgemein angenommen wird.

„An die Realität wird man erinnert, wenn man sich stößt“ (Jacques Lacan)


Die Ankündigung der ersten Impfstoffe im November letzten Jahres und die ersten Impfungen markierten den Beginn einer neuen Marktphase, nämlich der Aussicht auf ein Ende der Krise. Das zweite und das dritte Quartal des Jahres wurden von Volkswirtschaftlern schnell als der Zeitraum bezeichnet, in dem der sehnlich erwartete Konjunkturaufschwung stattfindet. Ausgelöst würde er, weil die Verbraucher, sobald die Impfkampagnen eine kritische Masse erreichen, das Vertrauen (und die Erlaubnis) zurückerlangen, ihre lange zurückgestellten Konsumwünsche zu erfüllen und dafür auf ihre überschüssigen Notfallersparnisse zurückgreifen. Parallel zu dieser Erholung wäre wahrscheinlich auch eine Beschleunigung der Aufstockung der Lagerbestände zu erwarten, die von den Unternehmen bereits eingeleitet wurde. Der Verlauf einer Rückkehr der Verbraucher zur Mobilität und einer Normalisierung im Dienstleistungssektor wäre damit vorgegeben.

In der Realität gestalten sich die Fortschritte jedoch außerordentlich schwierig. Angesichts logistischer Probleme, Impfvorbehalten der Bevölkerung, der schwierigen Frage der Reihenfolge der Impfungen und des unterschiedlichen Tempos der einzelnen Länder rückt die Aussicht auf eine Rückkehr zur Normalität immer weiter in die Ferne. In diesem Umfeld wächst das Risiko, dass die Ausgangsbeschränkungen zur Eindämmung der neuen Infektionswelle erneut verschärft werden, bevor die Impfung der Bevölkerung schließlich eine Lösung bringt. Wegen der möglichen Verbreitung der neuen, kürzlich entdeckten und sehr viel ansteckenderen Coronavirus-Variante in ganz Europa wird es natürlich wahrscheinlicher, dass sich diese immer noch sehr schwierige Phase weiter in die Länge zieht. Solange die Staaten und die Zentralbanken ihre Unterstützungsmaßnahmen im entsprechenden Umfang fortsetzen, stellt dies nicht unbedingt ein Risiko für die Marktentwicklung dar. Es bestärkt uns jedoch darin, an unserer Art des Portfolioaufbaus festzuhalten, bei der wir Aktien mit hoher Transparenz bevorzugen.

Aussicht auf einen mittelfristigen Kurswechsel der Märkte


Womöglich weil es 2021 50 Jahre her ist, seit die Konvertierbarkeit von Dollar in Gold beendet wurde – was damals einen schnellen Wertverlust der US-Währung auslöste und einen starken Inflationsanstieg ermöglichte, der anschließend von der ersten Ölkrise genährt wurde – ist seit dem Übergang der Mehrheit im US-Senat an die Demokraten das Inflationsrisiko und mithin ein möglicher Rückgang des US-Dollar wieder ein Thema. Allerdings hängt im Anlagebereich heutzutage fast alles von der zukünftigen Inflation ab. Dies betrifft natürlich die Zinssätze, aber auch die Bewertungen der Aktienmärkte und das Schicksal von rund 18.000 Milliarden Dollar an Staatsanleihen mit Negativzinsen. Daher bietet sich eine genauere Betrachtung des Themas an.

Ein mehrheitlich demokratischer Kongress wird zweifellos den linken Parteiflügel darin bestärken, die Umsetzung aller Maßnahmen des Wahlprogramms, auf dessen Grundlage Joe Biden gewählt wurde, einschließlich der „fortschrittlichsten“ Punkte, zu verlangen. Allerdings sollte man stets bedenken, dass die Demokraten nur über eine hauchdünne Mehrheit verfügen und bei jeder Abstimmung die Stimmen der gemäßigten Abgeordneten brauchen. Folglich erwarten wir 2021 zwar einen weiteren, umfangreichen haushaltspolitischen Anreiz, halten es aber für wenig wahrscheinlich, dass die radikalsten Punkte des Wirtschaftsprogramms umgesetzt werden. Im Übrigen sind die Unterbeschäftigung und die überschüssigen Produktionskapazitäten immer noch beträchtlich und es besteht aufgrund der demografischen Entwicklung und der technologischen Umbrüche nach wie vor ein hoher struktureller Disinflationsdruck. Folglich ist das Risiko eines Inflationsanstiegs 2021 aus unserer Sicht begrenzt, wenn man von einem spürbaren, aber definitionsgemäß vorübergehenden Basiseffekt absieht. Überdies besteht zwar Einvernehmen über bestimmte Investitionen – vor allem im Infrastrukturbereich –, aber bei den wichtigsten Maßnahmen zur Erhöhung der Steuerlast ist gerade in Zeiten unsicheren Wachstums wahrscheinlich erheblicher Widerstand zu erwarten. Die Steuererhöhungen dürften vor allem im Bereich der Gewinn- und der Körperschaftssteuern moderat ausfallen und 2021 so gut wie nicht betreffen. Unseren Schätzungen zufolge würde das Wirtschaftswachstum das US-Haushaltsdefizit 2021 von 16 Prozent auf 10–11 Prozent drücken, was von den Märkten und der US-Notenbank ohne größere Schwierigkeiten finanziert werden könnte. Ein weiterer Wertverlust des US-Dollar ohne einen Einbruch wäre 2021 also logisch.

Mittelfristig deutet die zunehmende Einmischung der Staaten in die Wirtschaft auf einen Richtungswechsel der Märkte hin


[Divider] [Governance] Blue sky


Diese kurzfristig eher günstige Aussicht sagt jedoch nichts über die langfristigen Tendenzen aus. Schließlich haben die Regierungen und Zentralbanken, vor allem in den USA, 2020 den Rubikon überschritten. Von nun an wird es politisch und gesellschaftlich äußerst schwierig sein, den bereits angelaufenen Trend zu mehr staatlicher Einmischung in die Wirtschaft umzukehren. Der gleichzeitige explosionsartige Anstieg der Staatsschulden und der Geldschöpfung ist ein erster Vorgeschmack darauf. In diesem Umfeld ist es durch die demokratische Mehrheit im Kongress zweifellos wahrscheinlicher geworden, dass das vor 40 Jahren, in der Ära Reagan-Thatcher, eingeführte Wirtschaftsmodell der Deregulierung und Senkung der Steuerlast – kurz gesagt: des Rückzugs des Staates – dauerhaft in Frage gestellt wird. Die künftige US-Finanzministerin Janet Yellen hat ihre sehr keynesianische Sichtweise in dieser Hinsicht nie verheimlicht. Diese neue Wachstumsphilosophie könnte naturgemäß zu einer bewussten Politik der Umverteilung des Reichtums zugunsten der Löhne führen. Eine derartige Neugewichtung wäre günstig für eine Trendumkehr bei Produktivität und Inflation. Um darauf vorbereitet zu sein, halten wir beispielsweise Positionen in verschiedenen zyklischen Sektoren in den USA oder in Goldminen und haben Zinssätze und den Nasdaq Index teilweise abgesichert.



Ein 40 Jahre alter Trend sollte nicht blind verurteilt werden und vorerst herrscht wirtschaftliche Ungewissheit, vor allem in Europa. Abschließend sei angemerkt, dass 2020 nur China nicht der allgemeinen Tendenz zur Flucht nach vorne gefolgt ist. Das Land hat nicht nur die Pandemie in den Griff bekommen und auf eine ungezügelte Geldschöpfung verzichtet, sondern gezwungenermaßen auch gelernt, sich von den USA „abzukoppeln“. Daher finden wir auf diesem Markt zurzeit einen großen Teil unserer auf Überzeugungen basierenden Anlagen. Unsere allgemein ausgewogenen Portfolios und ein entschlossener, aktiver Anlageprozess dürften im Jahr 2021, das sich als komplex und somit chancenreich erweisen könnte, erneut wertvolle Instrumente für unsere Fonds darstellen.


Quelle: Carmignac, Bloomberg, 31/12/2020


Anlagestrategie