La Lettre d'Edouard Carmignac

Brief von Edouard Carmignac Edouard Carmignac greift zur Feder und kommentiert aktuelle wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Herausforderungen.

Paris,

 

   Sehr geehrte Damen und Herren,

      Was für ein außergewöhnliches Jahr! Durch ihre Wucht, ihr globales Ausmaß und ihre ungewisse Dauer hat diese Pandemie sowohl unser Leben auf den Kopf gestellt als auch tiefgreifenden Einfluss auf die Finanzmärkte gehabt.

    Wenngleich wir natürlich um die Opfer dieses Virus trauern, sei es in Bezug auf ihr körperliches und geistiges Wohl oder ihre unternehmerische Zukunft, sollten wir auch betrachten, wie diese Pandemie unseren Lebensstil und unseren Anlagehorizont nachhaltig beeinflussen wird. Zu diesem Zweck möchte ich noch einmal auf die drei wichtigsten Beobachtungen zu sprechen kommen, die ich Ihnen bereits in meinen letzten drei vierteljährlichen Schreiben mitgeteilt habe:

    Seit April habe ich den Eindruck, dass uns die Pandemie noch überraschen wird, weil sie die Geschichte beschleunigt. Während es zuletzt zehn Jahre gedauert hatte, bis das Volumen von Online-Einkäufen in den USA von 5% auf 17% gestiegen ist, wurde bereits in den ersten Wochen dieses Frühjahrs ein Sprung um weitere 7% verzeichnet. Analog dazu entwickelt sich das Homeoffice, wie sie von einigen Vorreitern unter den Unternehmen erprobt wird, auf Dauer zu einer gängigen, ja sogar erwünschten Praxis. Diese Veränderungen werden umso weniger umkehrbar, je weiter unsere Hoffnung auf eine baldige Rückkehr in unser normales Leben in die Ferne rückt. Zudem sind wir gezwungen, einen zunehmenden Teil unserer Tätigkeiten online zu erledigen: Arbeit, Einkäufe, Zahlungsverkehr, Spiele, Arztgespräche …

    Im Juli betonte ich unsere Weigerung, Unsicherheit zuzulassen – das neue Paradigma unserer entwickelten Gesellschaften. Angesichts des Epidemierisikos – auch wenn es gegenüber Pest oder Cholera vergleichsweise gering ist – wurden unsere Volkswirtschaften zum Stillstand gebracht, und das Risiko einer Rezession konnte durch einen allgemeinen Übergang zu einer Nullzins- oder gar Negativzinspolitik und massive fiskalische Stützungsmaßnahmen abgewendet werden. Die Kosten der Krise für die reichen Länder sind daher enorm und entsprechen fast 10% des BIP. Die Beseitigung des Gesundheitsrisikos wird sicherlich zu einer Belebung der Wirtschaftsaktivität führen, jedoch dürfte sich dies nicht besonders schnell in einer erheblichen Senkung der öffentlichen Ausgaben niederschlagen. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen dürften das langsame Tempo der Impfkampagnen und die Ansteckungsgefahr von COVID-19 dazu beitragen, dass sich diese Erholung nur langsam vollzieht. Und zum anderen werden die Regierungen bestrebt sein, die Kaufkraft der am wenigsten benachteiligten Bevölkerungsgruppen aufrechtzuerhalten, die von der Gesundheitskrise besonders betroffen sind. Dies ist auch eines der Hauptziele des Programms von Joe Biden.

    Im Oktober begrüßte ich die Einführung des Prinzips der unbefleckten Empfängnis im Finanzsektor, die wohl eine der Folgen der Pandemie war, mit denen man am wenigsten gerechnet hätte. Allen bewährten Glaubenssätzen zum Trotz nahmen die Regierungen der Industrieländer neue Schulden in Rekordhöhe auf und erhielten Kredite, ohne dass die Märkte sie über die Ratings ihrer Anleihen oder den Wechselkurs ihrer Währungen abgestraft hätten. Doch wird dieser Glückszustand von Dauer sein? Ganz sicher nicht. Oder besser gesagt: Er wird so lange anhalten wie die Auswirkungen der Pandemie. Solange sie alle Länder in gleichem Maße betreffen, besteht die doppelte Notwendigkeit, sowohl die Gesundheit als auch die Arbeitsplätze zu schützen.

    Außerdem könnte es paradoxerweise dazu kommen, dass sich die Aktien- und Anleihemärkte vor einem Ende der Pandemie zu fürchten beginnen. Bereits in den ersten Spannungen bei den langfristigen US-Zinsen und dem Dollar spiegeln sich die Sorgen der Anleger über die Tragbarkeit des US-amerikanischen Haushalts- und Handelsdefizits wider. Auch wenn es an den Aktien- und Anleihenmärkten immer noch Chancen gibt, sind wir der Meinung, dass wir angesichts der Euphorie am Markt Vorsicht walten lassen sollten. Auch zum Ende der Pandemie werden wir in Bezug auf das Risikomanagement in gleichem Maße wachsam bleiben müssen, wie wir es seit ihrem unerwarteten Ausbruch sind.

    Zu Beginn dieses ungewöhnlichen Jahres wünsche ich Ihnen von Herzen Glück und Wohlstand.

Édouard Carmignac